Ekel und Anziehung liegen nah beieinander -  Über Haare und Schönheit.

Meine Freundin und telefonierten und ich erzählte ihr, was für „krasse Hornhaut“ ich zurzeit habe wie noch nie in meinem Leben, weil ich so viel barfuß laufe wahrscheinlich.

Sie erzählte mir lachend, dass sie letzten Sommer jemanden getroffen habe,

sie mit „übertrieben krasser Hornhaut“ und haarigen Beinen, und sagte dann:

„Ich weiß nicht, ob er angeekelt war, weil ich aussehe, als käme ich aus dem Wald, oder ob er’s vielleicht auch beeindruckend fand!“


Ich:

„Ekel und Anziehung liegen nah beieinander!“

und wir brachen in schallendes Gelächter aus.

 

Was auch stimmt, glaube ich.

Dazu möchte ich die Geschichte von meinen eigenen behaarten Beinen erzählen.

 

Ich bin nämlich durch meine behaarten Beine zum Coaching gekommen.

So als 13-Jährige habe ich mir vorschriftsgemäß meinen ersten Rasierer gekauft, und war unheimlich stolz, dass ich endlich eine Frau war, und jetzt Körperpflege (oder sowas) betreiben konnte.

Meine erste “Frauenunterhose”, einen silbernen String Tanga, hatte ich mir bereits ein Jahr vorher gekauft,

aber mit dem Rasieren war ich nun endlich so weit.

 

Die nächsten 17 Jahre waren davon geprägt, mir die Beine, später auch den Intimbereich, Achseln und Gesicht, zu rasieren, zu „waxen“ (jemand reißt mit heißem Wachs, was die Haut auch manchmal verbrennen kann, Haare aus deinem Körper)
oder zu epilieren (du reißt mit einer Maschine Haare aus deinem Körper raus), was unheimlich schmerzhaft ist.

Beim ersten Mal „Waxen gehen“ saß meine Freundin neben mir, und hielt mir die Hand, während ich fast ohnmächtig wurde.

Das erste Mal epilieren nahm sie bei mir vor, da lag ich heulend am Boden. Bis ich mich irgendwann dran gewöhnte und es fast schon gerne machte.

Weil es sich lohnte, es war ja für etwas Gutes.

Nämlich fürs gut gefunden werden.

Als ich älter war, hatte ich schon immer wieder überhaupt keine Lust,
meine Beine zu rasieren, und tat es aber mehr oder weniger doch fast immer, widerwillig, und wenn ich mal nicht komplett rasiert hatte, dann zumindest den Bereich bei den Knöcheln, der unter der Jeans sichtbar war.

Kurze Hosen gingen auf gar keinen Fall, oder ich wäre vor Scham geschmolzen.

Auf Dates ging ich ausschließlich direkt nach dem Waxen. Oder eben nicht.

 

Vor ein paar Jahren, als ich mit Jemandem anbändelte, und wir uns, bereits nach mehreren Wochen Kennen, wiedersahen, nachdem ich bei einem Festival war und mich natürlich nicht rasiert hatte, weil es mir egal gewesen war,

waren wir gerade dabei, uns auszuziehen, als ich begann, unbeholfene Kommentare zu machen, die meine behaarten Beine betrafen.

Er war irritiert davon, die Stimmung war seltsam- nicht vertraut genug, darüber zu sprechen, was eigentlich gerade für eine Unsicherheit im Raum steht, nicht oberflächlich genug, um es zu ignorieren.
Ich war so wütend auf mich, und darauf, wie ich Schönheit als Frau lernte, und darüber, dass es nicht einfach abzustellen war, und ich nicht einfach selbstbewusst sein konnte.

Hinterher schickte ich ihm ungefähr 30 Nachrichten, in denen ich über die Erziehung der Frau heutzutage im Patriarchat sprach und wie ich mich davon befreien werde.

 

Ich war damals wütend.

Ich war wütend, dass ich mich so dermaßen einschränkte, weil da 3 Millimeter Haar an meinen Beinen zu sehen waren. Ich war wütend, dass ich mich selbst verleugnete, dass ich jenen Teil meines Körpers als zu verstecken wahrnahm.

Ich war über Jahre jedes Mal wütend gewesen, dass ich mich so oft von außen betrachtete und gar kein Gespür mehr dafür hatte, was ICH eigentlich an mir schön fand.

Ich habe mehrere Freundinnen, die sich auch nicht rasieren, und das fand ich immer lässig, faszinierend, abstoßend und anziehend zugleich, schämte mich dafür, und fand mich wiederum „spießig“, wenn ich es doch tat, und „ungepflegt“ vor Anderen, die sich rasierten, und schämte mich dafür. Was für eine Verschwendung meiner Gehirnkapazität!

 

Ich googelte „feministisches Coaching“ und fand Kara Loewentheil, bei der ich seitdem lerne.

Die nächsten Jahre wurden immer spannender.

Ich experimentierte nun damit, erst meine Augenbrauen, dann meine Beinhaare und Körperhaare wachsen zu lassen, und der Anfang war fast unerträglich.

Ich hatte gerade meinen Partner kennengelernt,

Ich konnte eine Weile nicht mehr entspannt Sex haben, weil ich ihn wie besessen alle 5 Minuten fragte, ob er es hässlich oder ok fand, dass ich Körperhaare hatte, woraufhin er immer wieder seufzte:

„Ist mir egal. Du musst dich wohl fühlen.“

 

Ich beobachtete meine länger werdenden Beinhaare und ekelte mich. Und war gleichzeitig fasziniert von ihnen.

Ich fand es manchmal schön, manchmal schrecklich, mich anzugucken.

Und wusste gleichzeitig, dass das einzig Konditionierung ist. Also hörte ich nicht auf.

Ich wollte mein Gehirn umtrainieren.

Ich schaute mich in der U- Bahn um und zählte Frauen, die kein Makeup trugen oder nicht ihre Haare gefärbt hatten, oder nicht ihre Beine rasiert. Ungefähr 1 aus 1000.

Was mich immer wieder aufgebracht hat.

Nicht, weil ich was gegen Haare färben oder Makeup generell hätte – ich bin Maskenbildnerin, ich hab wahrscheinlich mehr Makeup, als du jemals besitzen wirst,

sondern, weil viel zu viele Menschen, Frauen, ihr Äußeres ablehnen,
ohne es je zu hinterfragen.

 

Weil sehr viele Frauen sich beim Sex oder überhaupt mit ihrem Körper nicht entspannen können, weil sie über ihr Äußeres nachdenken.
Und nicht, weil sie ihr Gehirn umtrainieren wollen, sondern weil sie einfach denken, dass sie nicht schön genug wären.

 

Mittlerweile rasiere ich mich manchmal, manchmal nicht.

Ich schminke mich, wenn ich Lust habe, und meistens nicht, kämme mir nur wenn es sein muss, die Haare, und bin mittlerweile viel lieber Ich.

Ich glaube tatsächlich, dass ich erst in den letzten Jahren verstanden habe, WAS schön an mir ist und mich wirklich schön finde.

Abgesehen von meinem Aussehen oder bestimmten Punkten auf einer Checkliste, die erfüllt sind oder nicht.

Meine Körperin und ich sind seitdem viel bessere Freundinnen geworden.

Sie darf sein, wie sie ist, also lässt sie mich auch viel mehr sein, wie ich bin.

 

Manchmal trage ich meine manchmal behaarten Beine gerne zur Schau, ich irritiere Menschen durchaus gerne.

Dann wieder habe ich manchmal rasierte Beine und bin ganz unauffällig gekleidet, wenn ich mich nicht so selbstbewusst fühle und es in dem Moment schöner finde.

 

Und dann bin ich nett zu mir, weil ich verstehe, dass diese tiefe Prägung nicht einfach zu bekämpfen ist, und dass das auch okay ist.

Weil ich mir darüber bewusst bin, was ich „schön“ finde und warum, und was ich „auch schön“ finde.


„Gaslighting yourself“ in toxische Positivität nennt man so etwas.

Das beschreibt den Vorgang, wenn du versuchst, dich zu zwingen, etwas toll zu finden, obwohl du noch im Prozess der Ablehnung und des Verstehens bist. Das ist wichtig.

Du darfst deine Prägung nicht vergessen. Sei lieb zu dir, während du dir dessen bewusst bist.

 

Ich finde zum Beispiel perfektes Contouring - Make-up, Rihanna(omggg) und 90-60-90 schön.
Abgesehen von Symmetrieaspekten eines Gesichts, auf die wohl so gut wie alle Menschen anspringen, hab mir ja jahrzehntelang angeschaut, was „perfekt“ ist,

und kriege wie wir alle durch die Medien täglich neues Futter dafür.

Und das ist eingebrannt in mein Hirn für die nächsten Jahrzehnte.

 

Das ist unglaublich wichtig.

Wir können im Prozess des Wachtums diesen Schritt nicht einfach überspringen.

Es ist wichtig, anzunehmen, wo du stehst statt versuchen, es zu ignorieren.

Statt dich darüber zu ärgern, dass du Kim Kardashian „perfekt“ findest und dich anschließend darüber ärgerst, dass du so oberflächlich bist, akzeptiere es erstmal, während du dich fragst, warum das so ist.

 

Denn Veränderung kann nicht passieren, wenn du ablehnst.

Veränderung kann nicht passieren, wenn du dich ablehnst, oder wenn du die Umstände ablehnst.

Lass das mal wirken.

 

Und abseits der Symmetrie? Da wird es interessant. Die Eigenheiten eines jeden Gesichts, eines jeden Körpers, das ist schön. Auf einer ganz anderen Ebene natürlich.

Was ich am allerschönsten finde, sind Menschen, die echt sind.

Die sich zeigen, wie sie sind. Lebendige Menschen.

Wenn ich Menschen zusammensitzen sehe und sie lachen aus vollem Herzen, dann rührt mich das zu Tränen.

Wenn ich meine Freundinnen und ich uns auf dem Dance Floor ankreischen, weil wir so glücklich sind, wenn wir zusammen tanzen, dann weiß ich, das ist Schönheit. Wenn ein Freund in meinen Armen weint, ist das Schönheit,

wenn ich kleine Babys sehe, das ist Schönheit,

eine Geburt, das ist Schönheit,

starke zarte Frauen, das ist Schönheit. Natur, Kraft, Stille, Echtheit. Selbstbewusstsein. Schwäche. Mut. Verletzlichkeit. Echtheit. Das ist Schönheit für mich.

 

Was ist schön für dich?

 

Ich freu mich auf deine Nachricht.

Rivka Dette radikale Selbstakzeptanz
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