Muss ich meinen Eltern eigentlich vergeben? Teil II
Den ersten Teil gibt es hier
Er sah, wie gehemmt er war.
Wie er nur halb gelebt hatte, so fühlte sich das an.
Er wartete auf den Segen seiner Eltern.
Wie er die ganze Zeit nicht gemerkt hatte, dass er wartete!
Und auf einmal ging es noch eine Schicht tiefer.
Denn auf einmal sah ein:
Es gab gar nichts zu verzeihen!
Er musste seinen Eltern nicht verzeihen.
Nun sagte er gar nichts mehr, sondern wunderte sich nur.
Doch, das war ein ganz klarer Gedanke:
Es gibt nichts zu verzeihen.
Er musste ihnen nichts vergeben.
Wie anmaßend fühlte sich dieser Gedanke auf einmal an.
Ihre einzige Aufgabe, ihn ins Leben zu schicken, hatten sie erfüllt.
Alles andere ist das Schicksal seiner Eltern, und sein eigenes Schicksal.
Und war er nicht ein lebensfähiger gesunder Mensch geworden,
mit Beruf, Heim und Familie?
Nun war es so weit. Sie hatten abgeschlossen.
Es gab nichts mehr zu erwarten.
Es gab nichts zu verzeihen.
Er war nun ganz ruhig.
Es war ganz ruhig.
Und auch die Stellvertreter seiner Familie waren ruhig.
Denn sie konnten hören und sehen, was in ihm vorging.
Er dachte :
Sie haben ihren Job erfüllt.
Vielleicht nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte, aber vielleicht ist das okay?
Das ist alles.
Ich lebe mein Leben und brauche ihren Segen nicht.
Ich muss ihnen nicht vergeben.
Sie haben getan, was sie konnten, und wollten.
Manche Sachen laufen nicht so, wie ich es möchte.
Vielleicht gehört das dazu - das zu akzeptieren.
Vielleicht gehört das zu MEINEM Schicksal.
Und er konnte plötzlich wertschätzen, was sie ihm gaben und gegeben hatten.
Und dann : meldeten die Stellvertreter seiner Eltern sich.
Um ihm, hier in der Aufstellung, ihren Segen zu geben.
Sie sahen, dass er nicht mehr gegen sie kämpfte, sondern sich zeigte, wie er war.
Ohne Wut, ohne Erwartung.
Und die Kraft 'Freiheitsdrang' meldete sich.
Sie wurde nun nicht mehr gebraucht.
„Ihr kommt auch ohne mich zurecht.“
Und der junge Mann verstand etwas:
Es gibt nur Schicksale.
Meine Eltern sind mir nichts schuldig.
Und so lange ich darauf warten werde, dass sie mir meine Wut abnehmen, bleibe ich unglücklich.
Denn so wie ich nicht IHR Schicksal tragen kann,
so wie ich keine Verantwortung für sie übernehmen kann,
so können sie mir nicht meine Wut nehmen.
So können sie mich auch nicht glücklich machen.
So wie ich ihre Erwartungen nicht erfüllen konnte, (so wie ich es zumindest denke),
so können sie meine Erwartungen auch nicht erfüllen.
Es liegt an mir. Ich darf beginnen, zu leben.
Und dann kam ein letzter erschreckter Gedanke auf:
Was, wenn es schief geht?
Was, wenn alles zerbricht, wenn ich gehe?
Doch da meldeten sich die aufgestellten Kräfte „Bürde“ und „Freiheit“ und sagten:
Was, wenn es klappt?
Und zum ersten Mal seit Jahren spürte er diese leise Liebe in sich, für seine Eltern.
Dort standen sie, mit ihrer Bürde, mit ihrem Schicksal.
Er konnte nun entscheiden, wollte er bleiben oder wollte er reisen –
Er konnte die Bürde seinen Eltern nicht abnehmen.
Sie konnten seine Erwartungen nicht lösen.
Er hatte sein eigenes Paket.
Er vermisste seinen kleinen Sohn. Seine Frau.
Damit ging die Aufstellung zu Ende.
Nichts hatte sich verändert. Und doch hatte sich verändert,
dass alle ein bisschen mehr auf ihren Platz gerückt waren.
Kennst du das?
Die großen Erwartungen an deine Eltern?
Das er-WARTEN, dass sie dich endlich so akzeptieren, wie du bist?
In der Hoffnung, dass ihr euch dann versteht, dass dann Seelenfrieden einkehrt.
Vielleicht ist die Geschichte ähnlich wie deine.
Vielleicht nicht.
Vielleicht kennst du das, die Erwartungen, die deine Eltern (vielleicht) immer noch an dich haben,
und die du genauso an sie hast.
„Akzeptiert mich endlich!“ – kennst du das?
Vielleicht ist es nicht nötig, deinen Eltern zu vergeben.
Manchmal wird der Gedanke, vergeben zu wollen, auch zu Anstrengung und Selbstverurteilung
– weil du gar nicht wirklich vergeben willst.
Und auch das ist okay.
Wenn da Wut ist, darf da Wut sein.
Wenn da Trauer ist, darf da Trauer sein.
Wenn du Wünsche hast, nimm sie wahr.
Manche werden deine Eltern niemals erfüllen.
Vermutlich sogar die meisten.
Und wie lange noch willst du damit verbringen,
darauf zu warten,
dass deine Eltern dich endlich akzeptieren,
dir endlich zu deiner Selbstständigkeit gratulieren,
deine Musik toll finden,
deinen Partner annehmen,
etc.
?
Wenn du aufhören würdest, zu warten,
was würdest du dann machen?
Wo hältst du dich noch zurück?
Es hilft NIEMANDEM, wenn du versuchst, deren Erwartungen zu erfüllen.
Der erste Schritt, um damit Frieden zu schließen, ist, Anerkennung zu üben.
Anerkennung für dich, dass du dorthin gekommen bist, wo du jetzt bist.
Anerkennung für deine Eltern, dass durch sie (oder trotz ihnen) so ein gut geratener
Mensch entstanden ist.
Irgendwas muss da doch nicht schief gegangen sein.
Manchmal haben wir die Illusion von Einigung.
Dass wir uns irgendwann verstehen und einer Meinung sind.
Aber was, wenn dieser Gedanke nicht hilfreich ist?
Wenn es gar nicht darum geht, sich in verschiedenen Bedürfnissen zu EINIGEN,
sondern,
dir selbst treu zu werden?
Da kannst du ansetzen.
Und vielleicht geht es auch!
Vielleicht merkst du, es gibt gar nichts zu vergeben.
Deine Eltern haben einen guten Job gemacht.
Also.
Was willst du?
Was brauchst du?
Ist es einfach, das zu bekommen?
Ist es an das Verhalten anderer Menschen geknüpft?
Wie kannst du dir das Bedürfnis selbst erfüllen, ohne dass du andere Menschen dafür benötigst?
Wie wichtig ist es für dich, dieses Bedürfnis zu erfüllen?
Und warum?
So lange du das für dich selbst nicht klar hast, – kann es passieren, dass du immer wieder ins Unbewusste fällst, in die Er-Wartungshaltung.
Wenn du dort aufräumst, ist häufig so etwas wie eine Einigung möglich.
Und manchmal auch in Form von Uneinigkeit – agree to disagree.
Herzliche Einladung – warte nicht länger.