Wie schaffe ich es, meinen Eltern zu vergeben? // Was beim Familienstellen passieren kann Teil I

“Muss ich meinen Eltern vergeben?” ist eine Frage, über die ich schon häufiger nachgedacht habe.
Und zwar nicht, weil ich dachte, ich will bockig sein, sondern weil ich das Vergeben interessant finde.

Vergeben kann man immer, wenn jemand ein Verbrechen oder eine Schandtat begangen hat.
Es muss etwas zu vergeben geben.
Aber ist Vergeben wirklich so sinnvoll?



Um dieser Frage im wahren Leben auf den Grund zu gehen,
erzähle ich euch erst einmal eine kurze Geschichte über ein Familienschicksal.
Den Blogartikel habe ich in zwei Teile geteilt, und den zweiten Teil wird es nächste Woche zu lesen geben.

Los geht’s.

 

Vor einigen Jahren (ich muss 17 gewesen sein), war ich mal wieder während meiner Sommerferien in einem Sommercamp für Menschen, die ihre Freizeit damit verbringen, ihre seelischen oder herzigen Themen durch allerhand verschiedene Selbsterfahrungstechniken zu beleuchten.

Das erste Mal wurde ich zu so etwas eher unfreiwillig und zufällig mitgeschleppt, aber als ich dann mehrmals von außen miterlebt hatte, was für krasse Transformationen Menschen durchmachen können, hatte ich Blut geleckt.

Was gibt es alles noch in uns zu entdecken?

Neben Schüttelmediationen, Atem-Trance-Reisen, Gesprächen in der Gruppe und einzeln mit Therapeuten gab es auch das FAMILIENSTELLEN.

Familienstellen ist eine Technik von Bert Hellinger, der 2019 verstorben ist.

Die Familienaufstellung ist eine Methode aus der Systemischen Therapie, bei der einzelne Personen stellvertretend für Familienmitglieder im Raum positioniert (aufgestellt) und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dadurch soll das Beziehungsgeflecht innerhalb einer Familie visualisiert werden.



Es ist abgefahren, was beim Familienstellen passieren kann.
Manchmal fangen Menschen plötzlich an, sich anders zu verhalten, als sie normalerweise täten. Nämlich so, wie andere Menschen.

Sie benutzen plötzlich Vokabular, das sie sonst gar nicht nutzen, das sie dargestellte Person benutzen würde (ohne davon zu wissen),
Sie verändern ihre Körperhaltung, und vor Allem entstehen Empfindungen, die sie vorher noch nicht hatten.

Leute, ich hab keine Ahnung, wie das funktioniert, aber ich war selbst mehrmals Zeugin davon, und aus geheimnisvollen Gründen - funktioniert es.

Leider komme ich da mit meiner sonst so geliebten Logik auch nicht weiter, deswegen versuche ich jetzt nicht weiter, es zu erklären, sondern erzähle einfach weiter, was da so ähnlich einmal passiert ist.

An diesem Tag stellte ein junger Mann auf.
Sein Thema war seine eigene Rolle in der Familie, er hatte das Gefühl,
eine Verantwortung für seine Eltern zu tragen, und wusste nicht, wie er diese loswerden konnte.

 

Schon immer war der Drang nach Freiheit eine treibende Kraft in seinem Leben, während er in einem eng katholischen Haushalt aufwuchs.

Seine Eltern hatten von ihm gewünscht, er würde, wenn er schon kein Theologe würde, zumindest etwas geistes- oder sozialwissenschaftliches studiere.

Das tat er aber nicht. Er wurde Maler.


Der junge Mann war verheiratet und hatte ein kleines Kind.

Seine Frau war nicht gläubig, und sein Kind noch ein Säugling.

Sie verstand seine Sorgen zwar, konnte sie emotional aber nicht nachempfinden, so sein Eindruck.

Als Vater war er noch ungeübt und sah sich oft Versagensängsten gegenüber,
gepaart mit dem Drang, auszubrechen,

und einem riesigen Schuldgefühl, solche Gedanken überhaupt zu hegen.

 

Zu seinen Eltern hatte er viel Kontakt, und fühlte sich doch immer wieder eingeengt und ging dann auf Abstand.

So weit, so gut.
Seine gesamte Kernfamilie wurde aufgestellt,
Seine Eltern, die mittlerweile nicht mehr zusammen waren, seine Geschwister, er selbst und der Rest, der Klüngel.
Zudem wurden die Kräfte
(denn beim Familienstellen werden nicht nur Personen, sondern auch manchmal Kräfte oder Gefühle aufgestellt)
'Sehnsucht nach Freiheit'
Und
'die Bürde' aufgestellt.

Zunächst werden alle aufgestellten Personen gefragt, wie es ihnen an ihrer Position ging, und wie sie sich miteinander fühlten.
Durch den Vorgang werden Beziehungen aufgezeigt und die Grunddynamik in einer Familie.

Das ist schon ziemlich interessant,
weil es meistens das echte Empfinden der dargestellten Personen ausdrückt.

Und dann wird es noch interessanter, wenn die Beteiligten darüber sprechen, wie sie sich in Beziehung zu anderen FamilienmitgliederInnen fühlen.

Auf einmal kommt heraus, dass die Mutter sich neben ihrem Mann unerträglich eingeengt fühlt, und sich aber mit der Tochter identifizieren kann, und dass der Bruder eigentlich aus dieser Familie raus will.
Dass der verstorbene Onkel als Schatten über der Familie hängt,
Und häufig werden auf einmal Sehnsüchte oder Erwartungen benannt, die vielleicht bereits vermutet wurden, aber nie ausgesprochen.

Das ist meist sehr aufreibend, und vor allem unglaublich interessant.


Und dann wird‘s ganz verrückt.

Die aufgestellten Kräfte beginnen zu sprechen.

Erzählen, wer sich wem hingezogen fühlt.

Die 'Bürde' will zu den Eltern des jungen Mannes.

Die 'Freiheitsdrang' will den jungen Mann mitreißen.

Der junge Mann will nicht.

Die Mutter will zum 'Freiheitsdrang'. Der Vater will zum Sohn.

 

Und auf einmal fängt der junge Mann an, zu weinen.

Er sieht auf einmal all seine Familienmitglieder vor sich.

Alle haben ihr Paket zu tragen.

Er sieht seine Eltern, mit ihrem Schicksal. Mit deren Eltern.

Mit ihrem Schicksal.

Er bekommt ein schweres Kissen in die Hand.

Dies stand stellvertretend für die Bürde, die er meinte, für seine Eltern tragen zu müssen.

Für die ungelösten Konflikte, für das Gewicht, das auf ihm lastet,

und das er für seine Eltern mitzutragen versucht.

Und für seine eigene gerade entstehende Familie.

Er gibt das Kissen seinen Eltern.

Die Eltern können es annehmen.

 

Es fällt der Satz beider Eltern: „Ich kann mein Schicksal tragen.“
Und der junge Mann sieht, dass es stimmt.

 

Er versteht auf einmal etwas zum ersten Mal:

 

Er hat keine Ahnung vom Schicksal seiner Eltern.


Er KANN keine Verantwortung für sie übernehmen.

 

Und plötzlich steigt eine Scham in ihm auf.

Eine Scham, weil er jahrelang so wütend auf seine Eltern war.

Wie blind waren sie, wie katholisch, wie engstirnig, sie hatten doch die Wahl, ein besseres Leben zu leben - stattdessen blieben sie ihr Leben lang in ihrer deprimierenden Kleinstadtödnis. Das hatte er immer gedacht.

Hatten ihn nie so unterstützt, wie er es sich gewünscht hatte.

Waren immer mit ihrer Arbeit beschäftigt.

Sie hatten sich nie wirklich für ihn interessiert.

Hatten nie wirklich Anteil genommen, als er beschloss, Künstler zu werden.

Waren immer besorgt, er immer eingeengt.

Und hier sah er sie nun alle vor sich.

 

Die Mutter mit ihrem Schmerz.

Mit ihrer nie ausgelebten Sehnsucht nach Freiheit, in ihrem Rücken ihre Ahnen, die ihrerseits Erwartungen und Aufgaben an den Sohn stellten.

Der Vater, der hier als Stellvertreter seiner tiefen Traurigkeit Raum gab,
seiner großen Angst, als Vater zu versagen, nicht stark genug zu sein, um eine Familie ernähren und umsorgen zu können, hatte er doch selbst von seinen Eltern so wenig Nähe und Liebe bekommen.

 

Der junge Mann erkannte sich selbst nun plötzlich in seinem Vater wieder,

mit seiner eigenen Angst als frischgebackener Vater, das nicht zu schaffen.

 

Und er weinte. Vor Demut.
Nun fühlte er sich zum ersten Mal wie das Kind seiner Eltern.


Er rief: Mama! Papa!

Und sie blieben erst dort stehen.

Und er sah sich.

In seinem Hochmut, seiner jahrelangen Wut auf den Vater, der Wunsch nach Nähe und Anerkennung gepaart mit Verachtung.

 

Die Stellvertreterin für 'die Bürde' stellte sich zu den Eltern.

Sie hatten ihre Bürde zu tragen.

Der junge Mann konnte sie nicht tragen, er wollte sie nicht tragen,

er musste sie nicht tragen.

Er sah lauter einzelne Menschen vor sich, alle mit ihrem Schicksal.

Und er konnte Ihnen verzeihen.

 

Er verneigte sich vor seinen Eltern.

Plötzlich fühlte er einen tiefen Respekt vor ihnen, dafür,

dass sie ihr eigenes schweres Leben geführt hatten, was vor seinem stattgefunden hatte,

und er senkte den Kopf,

weil er sich angemaßt hatte, darüber urteilen zu können.

Nun, als er sie vor sich sah, verstand er auch, dass das,

worauf er immer gewartet hatte, eventuell nicht eintreten würde.

Er sah, wie sehr er die ganze Zeit wartete.

Unbewusst, aber der Schmerz saß so tief, und war so subtil, und er war immer da.

Er hatte sich immer gewünscht, dass sich seine Eltern bei ihm entschuldigten.

Er wollte, dass sie sich bei ihm entschuldigten,

ihn schroff behandelt zu haben,

ihn nicht dabei unterstützt zu haben,

auf die Kunsthochschule zu gehen,

Dass sie ihn nicht umarmt haben, wenn er hingefallen war, dass sie ihm sagten:

„Ein Junge weint nicht, ein Junge beißt sich auf die Zunge“.

Er sah seine Eltern und er sah sich selbst -

er wartete auf das Leben Freiheit, wie seine Eltern es getan hatten.

Und er wartete darauf, dass sie ihm die Zustimmung dafür gaben. 

Er sah, dass er immer noch darauf wartete,

Anerkennung von seinen Eltern dafür zu bekommen, was er bisher erreicht hatte.

Ihre Segen dafür zu bekommen, dass er eine einfache Frau, die nicht an Gott glaubte,

geheiratet hatte.

Dass er Künstler geworden war.

Er sah, wie gehemmt er war.

Wie er nur halb lebte, so fühlte sich das an.

Er wartete auf den Segen seiner Eltern.

Wie er die ganze Zeit nicht gemerkt hatte, dass er wartete!

Und auf einmal ging es noch eine Schicht tiefer.

Denn auf einmal sah ein:

Es gab gar nichts zu verzeihen!

Und warum?

Nächste Woche gibt’s die Fortsetzung.

Rivka Dette ist Künstlerin und Mentorin für radikale Selbstakzeptanz. Sie lebt und arbeitet in Berlin oder ist unterwegs.
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