Wir sind alle beschränkt.Und das ist okay.
Im Moment bin ich in Mecklenburg.
Hier in Mecklenburg verbringe ich 9 Tage Urlaub in einer Gruppe von Menschen mitten im Grünen.
In dieser Gruppe lernen wir einander so gut kennen, wie viele Freundinnen der Gruppenmitglieder diese niemals kennenlernen würden.
Eine Sommer-Seminar-Feriengruppe.
2 Therapeuten, 40 Teilnehmende.
Morgens bis abends verschiedene Arten von aktiven Meditationen, Gruppentherapiesitzungen, Einzelgespräche mit Therapeuten, das alles in einem liebevollen Safe Space. Tagesablauf: durchgängiges Hinter den Vorhang des Offensichtlichen gucken, Nachforschen und Freilegen von inneren Prozessen,
Aufdecken und Heilen von alten tiefen Wunden und zwischendurch richtig geiles Essen.
Im Moment schreibe ich aus einem Zustand glücklicher Erschöpfung.
Ein Teilnehmer hat am Nachmittag ‚Playfight‘ angeboten, spielerisches Kämpfen.
Kämpfen im sicheren Rahmen ist heilsam.
Kämpfen, wenn du nicht musst, sondern darfst, bringt Entspannung in den Kämpfen im Alltag, die du denkst, kämpfen zu müssen,
und von denen du denkst, du darfst es nicht.
Beim erlaubten Kämpfen ist meine innere Kriegerin wieder hervorgekommen.
Wenn ich kämpfen darf und nicht muss, bin ich ekstatisch und glücklich.
Gerade bin ich glücklich und aufgewühlt.
Wobei, wühlen klingt so dramatisch.
Vielleicht eher, aufgedeckt.
Wenn viel in dir passiert, ist es gut, manchmal nicht viel zu machen,
sondern einfach zu beobachten.
Nichts zu tun, sondern zu beobachten. Das tu ich gerade.
Bevor ich mir die Zeit nahm, herzukommen, war ich absolut geschäftig.
In der Stadt, last minute alles fertig gepackt.
Meine Mitfahrgelegenheit zwanzig Minuten warten lassen und dann mit High Speed Tempo angekommen, mit Stress und schlechtem Gewissen, weil auf mich gewartet wurde.
Wenn ich jetzt, im Hintergrund Vögelzwitschern und Gitarrenklang, daran denke, kommt es mir vor wie ein Witz.
Die Sorgen. Der Stress. Die Schnelligkeit der Stadt.
Im Auto angekommen, dreht sich das Gespräch schnell darum, um die ätzende Schnelligkeit in der Stadt, und wie wir eigentlich doch gerne mal dort ‘raus würden.
Habe ich schon hunderte Male geführt, die Unterhaltung.
Und vermute, dass doch niemand von uns wirklich gehen wird – ist ok.
Deshalb der Entriss in die Natur alle paar Monate.
Und in der Schnelligkeit?
In der Schnelligkeit des Stadtlebens vergessen wir oftmals, dass das Leben, das wir gerade führen, gar nicht so sein muss, sondern eine Option von Millionen ist.
Wir denken, dass der Beruf, den wir gerade ausüben, so sein muss.
Wir sind in einer Partnerschaft und denken, so ist das jetzt, so muss das jetzt sein.
Oder wir sind in keiner Partnerschaft und denken, so ist das jetzt.
Und natürlich, ganz vorne, denken wir über uns selbst:
SO IST DAS JETZT. SO BIN ICH.
Und haben ein bestimmtes Bild über die Jahre etabliert.
Eine bestimmte Version von uns als Selbstwahrnehmung, die wir so abgespeichert haben,
die natürlich zum größten Teil unbewusst ist,
und die wir gut beschreiben können.
So bin ich. Das bin ich.
Bist du ein reflektierter Mensch, erlebst du sicher gern und regelmäßig eine leichte Verschiebung dieses Bildes,
oder eine Erleichterung eventuell negativer Aspekte deiner Meinung über dich selbst.
Bist du ein reflektierter Mensch, und dabei, dich zu ent-decken, startest du deine Reflektionsreise wahrscheinlich von einem Standpunkt mit weniger positiven Meinungen über dich selbst und entwickelst dich in eine Richtung, die auf ein positives Ziel und in eine positive Richtung steuert.
Du beschäftigst dich damit, negative Glaubensätze und Teile deines Selbstbildes abzubauen und lernst dich besser und besser kennen.
Du lernst dich schätzen und achten und vor allem, gewohnte Bilder abzulegen.
Und weißt du was?
Das ist wunderbar.
Und weißt du etwas anderes?
Das ist nur die Spitze des Eisberges.
Mit diesem Selbstbild, in dem du dich so sicher fühlst und das dich bis heute hat überleben lassen, durchkommen lassen,
bist du teilweise fähig, dich selbst zu reflektieren.
Zu einem sehr kleinen Teil.
Das geschieht nämlich immer nur aus einer Perspektive. Aus deiner.
Und selbst, wenn du sehr reflektiert bist,
wird da immer ganz viel sein, was du einfach nicht sehen KANNST.
Und zwar nicht aus mangelndem Talent, sondern: weil es nicht möglich ist.
Ich habe in den letzten Tagen einen interessanten Prozess in mir beobachten dürfen.
Das erste Mal war ich in solchen Selbsterfahrungsgruppen im Alter von 14 Jahren. So ab 16 habe ich begonnen, Seminarangebote wahrzunehmen, Familienaufstellungen und Atemreise-Meditationen mitgemacht und früh an Anderen beobachten dürfen, was passieren kann, wenn man nicht wach bleibt (Midlife-crisis. Da wollte ich nicht hin.).
Einige der Teilnehmenden hier kennen mich bereits seit meinem 14. Lebensjahr und bemerkten ab und zu, wie reflektiert ich doch damals bereits gewesen sei und wie spannend und einleuchtend, dass ich jetzt selbst als Coachin arbeite.
Während wir während dieses Aufenthaltes jeden Tag sehr viele Möglichkeiten haben, Themen, die uns bewegen, nach außen zu tragen, hielt ich das irgendwo nicht für oberste Priorität.
Ich dachte (unbewusst, bis gestern):
Die Probleme der anderen sind wahrscheinlich akuter.
Ich bin ja reflektiert genug.(Ja, ein Gedanke, der mir manchmal unangenehm ist)
Ich brauche das jetzt nicht unbedingt. Ich lasse anderen den Vortritt.
Ich kann mich ja selbst coachen, wenn es Not tut. Ich schaff das alleine.
Bis es in einer Gruppensitzung gestern herausbrach.
Dass, wie reflektiert auch immer ich bin, und wie gut ich für andere da sein kann und mag,
und wie sehr ich bei anderen sehe, wo deren Bedürfnisse nicht erfüllt werden,
und wo sie sich selbst ein Bein stellen,
so blind bin ich für viele dieser Teile an mir selbst.
Weil es einfach nur bis zu einem bestimmten Grad geht.
Ein Teil, der schon lange gesehen werden wollte, und den ich vergessen hatte, zeigte sich in aller Ausführlichkeit und Deutlichkeit und ich habe mich erinnert:
Du musst nicht alles alleine machen – und du kannst es auch gar nicht.
Wir sind alle beschränkt.
Und das ist okay.
Mit dem Input, den wir als Kleines bekommen, lernen wir eine Art kennen,
die Welt zu sehen, und meistens einen Mechanismus, um trotzdem oder damit durchzukommen.
Wird uns das irgendwann bewusst, lernen wir anschließend, diese Art, die Welt zu sehen, zu hinterfragen, und arbeiten daran, die Überlebensmechanismen zu entkräften.
Alles davon ist okay und völlig logisch-
Und hat auch zur Folge, dass unsere Wahrnehmung immer eingeschränkt ist.
Immer.
Man könnte es als Konstruktionsfehler sehen.
Dass wir andere mitunter sehr gut erkennen können und Verhaltensmuster verstehen
– und bei uns fällt uns das so schwer.
Man könnte diesen Konstruktionsfehler aber auch als Voraussetzung dafür sehen,
dass wir Menschen in Austausch miteinander gehen.
Dass wir in Austausch miteinander gehen sollen.
Wir brauchen andere Menschen, um uns selbst zu verstehen.
Wir können das nicht alleine.
Und auch das ist okay und kein Fehler.
Wir würde deine Wahrnehmung vom Leben aussehen, wenn du diesen Gedanken annimmst?
Dass du immer nur teilweise fähig bist, zu erkennen, was stimmt und was nicht.
Weil du immer nur eine von einigen Brillen aus deinem Repertoire trägst.
Und dir der Großteil aller anderen Brillen dieser Welt verschlossen bleiben.
Und wenn das zur Folge hätte, dass du auch gar nicht recht haben müsstest,
weil du es eh nicht kannst – wie würde das deine Herangehensweise ans Leben beeinflussen?
Und dann:
Was hältst du von dem Gedanken, dass du andere Menschen brauchst, um die Welt überhaupt ansatzweise zu verstehen?
Nicht nur den Input von anderen, nicht nur Wissen, was geschrieben wurde –
Sondern den Austausch?
Die Spiegelung?
Wie würde dein Leben dann aussehen?
Wie viele Diskussionen über eine bestimmte Situation in der Vergangenheit würdest du dann noch führen wollen?
Und würdest du dir selbst noch glauben, wenn du versuchst, dir zu versichern: „Ich bin so.“
Und wie oft würdest du dir selbst noch glauben, wenn du über deinen Partner, deine Mutter, deinen Nachbarn, denkst: „Der/die ist so.“
Würde das noch gehen, wenn der Großteil von dir selbst dir verborgen bleibt, weil du ihn nicht sehen kannst,
und ein Großteil von anderen dir verborgen bleibt, weil sie ihn nicht zeigen
und weil du immer nur durch deine Brille schauen kannst?
Wieviel Zeit würdest du dann überhaupt noch damit verbringen, dich selbst und andere in Kategorien einzuteilen?
-
Schon klar, wir Menschen mögen es, uns auszuruhen,
und uns nicht anzustrengen. Also vereinfachen wir gern Dinge.
Wie : Ich bin so.
Aber was, wenn du dich darin kollossal irrst?
Was, wenn du nie SO bist?
Ich glaube, dass wir uns unsere ganzen Leben so wahnsinnig den Kopf darüber zermartern,
wie und wer wir eigentlich sind,
weil wir niemals imstande sein werden, es gänzlich zu verstehen.
Ein endloser Kreis.
Und wir mögen keine Ungewissheit.
Und wir mögen keine Unsicherheit.
Ich glaube, das ist der einzige Grund.
Dass Menschen Unsicherheit und Ungewissheit so sehr scheuen,
und es für eine schlimme Sache halten.
Wie ist es aber, wenn sowohl Ungewissheit als auch Unsicherheit nicht nur zum Leben dazugehören, aber essenzieller Teil des Lebens sind?
Vielleicht macht dir das Angst, der Gedanke, dass du sowohl dich selbst als auch einen anderen Menschen niemals wirklich ganz kennenlernen können wirst.
Vielleicht denkst du, dass das ein Problem ist. Aber kannst du dir vorstellen, dass es kein Problem ist, sondern eine Erleichterung sein kann?
Weil es so sein muss? Dass es gar nicht anders geht als so?
Wie sieht das Leben aus für dich,
wenn du dir nicht sicher bist,
wer du bist,
und nicht sicher bist, wer die anderen sind?
- - -
Wenn dir das Angst macht,
möchte ich dich einladen, folgendes Gedankenexperiment auszuprobieren.
Wenn du dir selbst das nächste Mal im Spiegel gegenüber stehst,
stelle dir vor, du siehst dich gerade zum ersten Mal.
Du lernst dich gerade kennen, zum ersten Mal. Du bist ein unbeschriebenes Blatt.
Beobachte dich, wie du einen Menschen im Zustand der Selbstversunkenheit beobachtest.
Unverstellt.
Schau dir selbst zu, was du tust, wie du dich verhältst, wie du sprichst.
Als würdest du einen anderen Menschen beobachten.
Schreib es auf.
Oder nimm dir Zeit und formuliere Sätze im Kopf.
Und dann geh in den Austausch mit anderen.
Frag:
Wie siehst du mich?
Was siehst du an mir? Was glaubst du, zeige ich noch nicht?
Was magst du an mir? Was magst du nicht an mir?
Frag‘ 5-10 verschiedene Menschen und schau, was für Antworten du erhältst.
Denke daran, dass jede Person eine eigene Brille auf ihrem Gesicht hat, durch die sie dir schreibt.
Und wenn du dich dabei ertappst, wie du dir einen endgültigen Schluss daraus ziehen willst,
schlage ich dir diesen neuen Gedanken vor:
„Ich weiß nicht, ob ich so bin, aber manchen Menschen zeige ich mich so.“
Wie ist das?